Zur Arbeit von Nina Hotopp
von Annette Vonberg
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Zuerst war da dies Auge. Blickvoll, blicklos blickt es den Betrachter von der linken Bildhälfte einer großen, vorwiegend in Blau-, Violett- und Schwarztönen gehaltenen Leinwand an, über einen Abstand hinweg, der sich zunehmend zu vergrößern scheint, als würde die weibliche Figur wie auf einem Schiff in den lichten Hintergrund davongetragen, und der Betrachter weiß nicht, ob das Schiff mit großer Geschwindigkeit dem Horizont zustrebt oder dem Meeresgrund. Denn die Figur, die etwas von der Beharrlichkeit einer Galionsfigur hat, scheint halb im Wasser zu stehen. Über dieses Spannungsfeld von Stillstand und Beschleunigung ist menetekelhaft das Symbol eines großen Zahnes gesetzt, an dem rechten, oberen Bildrand nahezu eine Stellung außerhalb des Bildgeschehens einnehmend – ein Zeichen, ein Wegweiser?
Schon die erste Begegnung mit der Malerei und Graphik Nina Hotopps, hier durch das 2004 entstandene, 2005 zunächst in der Galerie Gardy Wiechern gezeigte und dann auf der Ausstellung Meisterwerke der G2 Galerie Gardy Wiechern Dependance in Hamburg zu sehende Bild mit dem Titel „OHNE DICH“, lässt erahnen, dass es sich hier nicht um Arbeiten handelt, die es dem Betrachter erlaubten, eine einfache Kategorisierung vorzunehmen oder die ihn dazu einlüden, sich an einem sportlichen Netzwurf kunstwissenschaftlicher Begriffe zu versuchen.
Das hat weniger damit zu tun, dass Nina Hotopps Arbeiten nicht greifbar wären. Sie sind in bestimmter Weise sogar höchst greifbar, nämlich insofern, als sie figurativ sind. Nicht nur sind sie figurativ im Sinne von Gegenständlichkeit, sondern die Figur wird auch wesentlich thematisiert, ja, sie stellt das eigentliche malerische Motiv in Nina Hotopps Arbeiten dar.
Ob als Einzelgestalt oder paar- und gruppenweise, überall treten einem in Nina Hotopps Bildern Figuren entgegen, menschliche Figuren, hier und da von symbolhaften Gegenständen begleitet, meistens aber für sich. Oft sind sie frontal auf die Leinwand plaziert und dem Betrachter mehr oder weniger zugewandt. Sie scheinen seinen Blick gewissermaßen zu erwarten. Damit kann es ihm passieren, dass er in ihren Bann gerät.
Manchmal mit geradezu provokanter Direktheit laden sie den Betrachter ein, in den Raum ihrer verschlüsselten Bezüge einzutreten, signalisieren ihm Teilhabe im Wechsel verdeckter Relationen, bringen es ihm zu Bewusstsein, dass er schon längst Teil hat an diesem Spiel, in dem Identitäten sich konfigurieren, aus sich heraustreten, sich verhüllen mit den vielfarbigen Schleiern der Zeit.
Denn die Figuren, die Nina Hotopp zur Darstellung bringt, tragen die Merkmale des Ausgesetztseins, der Verwundung bis hin zur akuten Versehrtheit an sich, etwas, was nicht so sehr, wie bei Francis Bacon, in der Amputiertheit von Gliedern und auch nicht in der Einkapselung von Köpfen wie bei Friedrich Einhoff zum Ausdruck kommt, sondern mehr in Verwischungen und Aussparungen wie in der dreiteiligen Reine Kopfsache-Serie von 2002 und in an und auf das Gesicht und den Körper gesetzten Fremdelementen wie in den Kopf- Bildern I-VIII und der Strandrunde I von 2011. In anderen Arbeiten tritt diese Gezeichnetheit der Figuren in zurückgenommenerer Form in Erscheinung, äußert sich vielleicht nur in der Neigung des Kopfes wie in Schleierhaft von 2003 oder in der Haltung der Körper.
Eintretend in den Schicht über Schicht gearbeiteten Szenenraum des Bildes wird der Betrachter hineingenommen in die Bewegung, mit der die Malerin das Zusammenspiel von Figur, Hintergrund und Betrachter choreographiert. Und während er noch versucht, im Kreis der Figuren die unausgesprochenen Spielregeln auszumachen, kann er plötzlich erstaunt feststellen, dass er Teil eines dramatischen Vorgangs ist und sich daran erinnern, dass Theater von dem griechischen Wort theorein für schauen kommt. Der Übergang zwischen Betrachter und Akteur ist fließend in diesem Bühnenraum wechselnder Demarkationslinien. Mit der vielfach chiffrierten Geschichtlichkeit der Figuren konfrontiert, kann der Betrachter nicht umhin, seine eigene zu erfahren. „Das Unbewusste nimmt wahr, hat Absichten und Ahnungen, fühlt und denkt ähnlich, wie das Bewusstsein“, schreibt der Psychoanalytiker C.G. Jung und wirft damit ein Schlaglicht auf den labyrinthisch verschlungenen Bereich der menschlichen Psyche, der unterhalb der Schwelle des Bewusstseins angesiedelt ist. Nina Hotopps Arbeiten markieren immer wieder Eingänge in diesen Bereich.
So folgt der szenische Aspekt ihrer Arbeiten nicht nur einem darstellenden, sondern ebenso einem erforschenden Impuls. Die Tänzerin und Choreographin Pina Bausch drückt sich auf folgende Weise darüber aus: „Bestimmte Dinge kann man mit Worten sagen und andere mit Bewegungen. Aber dann gibt es auch Momente, wo man ganz sprachlos ist, ganz ratlos und hilflos, wo man nicht weiter weiß. Da fängt dann etwas an. Es geht darum, eine Sprache zu finden – mit Worten, mit Bildern, Bewegungen, Stimmungen – die etwas von dem ahnbar macht, was immer schon da ist. Aber es ist ein sehr schwieriger Prozess, es sichtbar zu machen. Ich fühle, dass es etwas ist, mit dem man sehr vorsichtig umgehen muss.“
Von solcher Vorsicht in ihren Erforschungen und Darstellungen geleitet, kann Nina Hotopp in ihre Arbeitsweise eine Erkenntnisdimension integrieren, ohne den vielfältigen Versuchungen des Intellektualismus anheimzufallen. In diesem Sinne können ihre Arbeiten auf der einen Seite im Rahmen der Aufklärungs- und Innovationstendenz der Moderne gesehen werden, und gleichzeitig trifft für sie zu, was Stephan Schmidt-Wulffen, einer der leitenden Theoretiker der Postmoderne, über Kunst schreibt: „Die Werke eines Künstlers drücken eine Haltung zu Wirklichkeit und Welt aus, aber sie bringen sie nicht auf den Begriff. Ihre Methode entspricht in vollkommenster Weise ihrem Objekt: Sie analysiert Wirklichkeit, indem sie an ihr teilnimmt, oder umgekehrt, indem sie an der Wirklichkeit teilnimmt, analysiert sie sie. Jedes Werk ist Kommentar, aber die Art des Kommentars ist gleicherweise Symptom für das, was kommentiert wird.“
Von einem anderen Winkel spricht dies auch C.G. Jung aus: „Neues entsteht nicht durch den Intellekt, sondern durch den Spielinstinkt, der aus innerer Notwendigkeit agiert. Der kreative Geist spielt mit den Objekten, die er liebt...Große Kunst hat bis jetzt noch immer ihre Befruchtung aus dem Mythos geschöpft, das heißt aus jenem unbewussten Symbolprozess, der durch Äonen fortgesetzt und als ursprünglichste Manifestation des menschlichen Geistes auch die Wurzel aller zukünftigen Schöpfung sein wird.“
An dieser Stelle können wir vielleicht einhalten. Wir haben keine der vielen kunstgeschichtlichen Zuordnungen vorgenommen, die sich anbieten, sind nicht auf Nina Hotopps Verhältnis zum Expressionismus, zu Goya und Carravagio oder zur italienischen Renaissance eingegangen, haben auch nicht den Einfluß von Photographie und Videokunst auf ihr Werk untersucht. Ebenso blieb das Verhältnis zwischen ihrer Malerei und ihrer Graphik unberührt, wurde nicht weiter differenziert. Stattdessen haben wir versucht, uns ihren Arbeiten selber anzunähern; was nicht das gleiche ist, wie sie sprechen zu lassen, denn „das Kunstwerk redet nicht“, wie der Kunsthistoriker Werner Hofmann schreibt, „es schließt uns nur den Mund auf, und wenn es „spricht“, dann mit den Worten, die wir stellvertretend für unser Erleben setzen, mit Worten also, die wir ihm in den Mund legen.“
Solches Sich-den-Mund-aufschließen-Lassen aber setzt, wenn es nicht in Gerede ausarten will, ein Bewusstsein von der Unausschöpfbarkeit und irreduziblen Rätselhaftigkeit des Kunstwerkes voraus.
Auch davon schreibt Werner Hofmann und kommt mit einem Vorschlag, mit dem wir vielleicht diese Betrachtung von Nina Hotopps Arbeiten abschließen können:
„Vielleicht würde sich der Versuch lohnen, die Kunst mit dem ungeschmälerten Gewicht ihrer Rätselhaftigkeit gleich einem Meßstab – einem Maßstab! – bei uns „einzuführen“. Die Marke, zu der wir sie vordringen lassen, würde uns die Tiefe angeben, zu deren Bewältigung wir imstande sind.“
ABOUT NINA HOTOPP'S WORK
by Annette Vonberg
First, one sees an eye. Engaging yet empty, it gazes at the viewer from the left half of a large canvas tinted in hues of blue, violet and black, surveying an expanse which seems to increasingly widen. It is as if the depicted female figure, who appears to be carried away on a ship towards a light background, arouses an uncertainty in the viewer as to the ship's direction- is it speeding towards the horizon, or about to sink to the bottom of the sea? This uncertainty is due to the fact that this woman, who seems to embody the perseverance of a ship's figurehead, appears to be partially immersed in water. Beyond this field of tension, at the right edge and nearly detached from the events in the painting, is a symbol of a large tooth, further perplexing the viewer- is it a clue, or signpost?
Upon first encountering Nina Hotopp's work, in this case a canvas from 2004 titled "Ohne dich" (Without You), which was first exhibited in the Galerie Gardy Wiechern in 2005 as well as in the Masterpieces exhibition of the G2 Galerie Gardy Wiechern Dependance in Hamburg, it becomes quite clear that hers are works which cannot easily be categorised or analysed by aesthetic terminology.
This inability to pigeon-hole Nina Hotopp's work is not due to any seeming intangibility, on the contrary; by being figurative her paintings become tangible without being overtly literal. Her works are not only figurative in the sense of depicting familiar visible objects, these figures also become their main thematic elements and serve as the central pictorial motif as well.
Whether single, in pairs or in groups, it is always figures the viewer encounters in Nina Hotopp's paintings, human figures as it were, sometimes accompanied by some symbolic object but more often on their own. Frequently they are placed en face on the canvas, more or less inclining towards the viewer. In a peculiar way they seem to be expecting the viewer’s gaze, and one can easily fall under their spell.
Sometimes it is with provocative directness that the paintings invite the viewer to enter into their space of encrypted references and to participate in an interchange of hidden relationships. Then suddenly, one may realise that one has already become part of a game where identities configure, present themselves and then withdraw to enwrap themselves in the colourful veils of time.
The figures Nina Hotopp portrays show signs of vulnerability, of being hurt or perhaps wounded. This does not manifest itself so much through images of amputated limbs as with Francis Bacon, nor through the encapsulation of heads as with Friedrich Einhoff. Much more is implied through blurred areas or omitted spaces as in her three part “Reine-Kopfsache”-Series (2002), or by the application of alien elements onto the heads and bodies as seen in her “Kopf- Bilder I-VIII", and the “Strandrunde” painting (2011). In other paintings this vulnerability is much more subtle, perceptible perhaps only through the inclination of the head as in “Schleierhaft” (2003), or by the posture of the body.
Entering the multi-layered space of the painting, the viewer is drawn into a complex choreography of figures and background, and is confronted with his own shifting point of view. While searching through the field of figures trying to discern the hidden rules of the game, one may suddenly become aware of being part of a dramatic event and perhaps be reminded of the fact that the word “theatre” is derived from the Greek word for contemplation, theorein. The transition between spectator and actor are fluid in this scenic space of changing demarcation lines. When encountering the multiple codified historicity of the figures, the viewer cannot help but to realise his own historicity.
"The unconscious mind perceives, has intentions, ideas and feels and thinks similarly to the conscious mind", the psychologist C.G. Jung writes, shedding a light onto the labyrinth-like domain of the human soul, which is located below the threshold of consciousness. Nina Hotopp's works quite often reveal gateways into this area.
Hence there is not only a representative but also an investigative trait in the scenic aspect of her work. The dancer and Choreographer Pina Bausch expressed it like this: " There are certain things you can say with words and others with movements. But then there are also moments which render you speechless, when you feel helpless, at a loss and at such moments something new begins. One needs to find a language - through words, images, movements, atmospheres - trying to make tangible that which has always existed, but requires an often difficult process to make these impulses visible. I feel this is something that must be treated very carefully."
Being guided by such caution in her exploration and depictions, Nina Hotopp is able to utilise a cognitive dimension in the process of her work without yielding to the many temptations of intellectualism. In a sense, her work can be seen within the modernist frame of elucidation and innovation, while at the same time relating to what Stephan Schmidt-Wulffen, one of the leading postmodernists, writes about art: "The works of an artist express an attitude towards their reality of the world, but don't construe it precisely.
Their method of working represents an object in its most complete way- they analyse reality by way of participating in it, or the other way round, by participating they analyse. Every work of art is a commentary, but the unique way in which an artist comments determines the characteristics of what is being commented upon."
C.G. Jung expressed this idea from a different angle: "The creation of something new is not accomplished by the intellect, but by the play instinct acting from an inner necessity. The creative spirit plays with the objects it loves...Great art has almost always drawn its inspiration from mythos, the unconscious process of symbolising; this is the ancient manifestation of the human spirit and also the roots of any future creative work."
At this point we may perhaps pause. We have refrained from the many art history categorisations which we could have been tempted to make.We haven't touched upon Nina Hotopp's relationship to expressionism, to Goya, Carravagio or the Italian renaissance. We have not inquired about Nina's influence from photography or video art, nor examined the relationship between the painting and graphic sides of her work. We have instead tried to find a way to digest her work on its own, which is not the same as trying to let it speak, because as the art historian Werner Hofmann writes: "A work of art does not speak, rather it opens our mouth, and when it "speaks" it does so with words substituted for our experience, that is to say, words which we integrate into the language of the work."
Such allowing one's mouth to be opened, if it is not to end up in empty talk, assumes an awareness of the inexhaustible and infinite mysteries of art.
Werner Hofmann also comments on this topic with a suggestion, which I will borrow to conclude this reflection of Nina Hotopp's work:
"Maybe it would be worthwhile to judge art by measuring its undiminished enigmatic weight with a yardstick. The number to which the art penetrates would reflect the depth of accomplishments that one is capable of."